Toxizität

Toxizität # Von: Christian Gehlen

Um das Gift von Skolopendern existieren viele Mythen. Oftmals wird Hundertfüßern nachgesagt, dass sie extrem gefährlich, gar tödlich seien. Doch sprechen viele Untersuchungen gegen diese Behauptungen.

Alleine in der Türkei werden jährlich an die 5000 Stichverletzungen im Krankenhaus behandelt. Man geht jedoch von einer hohen Dunkelziffer aus, werden die Tiere dort im allgemeinen nicht für gefährlich gehalten.1 Auch Untersuchungen aus anderen Regionen, beispielsweise aus Sao Paolo (Brasilien)2 oder Hongkong3 sehen die primäre Aufgabe nach einem Skolopenderstich in Wundversorgung und Schmerztherapie.

Unterschiedliche Studien kommen zu dem Schluss, dass ein Skolopenderstich prinzipiell nicht tödlich ist.4 Den Großteil der Symptome machen lokale Schmerzen aus (71%), bei unter 10% der untersuchten Fälle kam es zu systemischen Symptomen wie Kopfschmerzen, Schwindel, Erbrechen oder Brustschmerzen und Herzrasen.3 Systemische oder ernsthafte lokale Symptome werden entsprechend als “selten” eingestuft4; die meisten Stiche aus freier Wildbahn würden gar nicht erst gemeldet. Obwohl alle Hundertfüßer den Ruf haben, gefährlich zu sein, neigen sie eher dazu zu fliehen anstatt anzugreifen.

Obwohl in jüngster Vergangenheit einige Durchbrüche in der Forschung um die Zusammensetzung von Skolopendergift erreicht wurden, ist es noch weitestgehend unerforscht und viele funktionale Eigenschaften sind weiterhin uncharakterisiert.5

Giftapparate #

Giftklauen von Sc. "White leg" und Sc. gigantea

Alessandro Tinella / @centipede_.tv

Die Giftklauen von Hundertfüßern sind, entgegen populärer Meinungen, die ersten Beinpaare der Tiere, die zu Giftapparaten umgeformt sind. Dieses Beinpaar ist geformt wie ein spitzes Paar Zangen und besteht aus vier bis fünf Segmenten: einem großen Trochanteroprefemur, zwei kurzen Segmenten (Femur und Tibia) und einer endständigen Klaue. Während die endständige Klaue in Scutigeromorpha aus zwei Segmenten besteht, dem Tarsus und Ungulum, sind diese bei allen anderen Hundertfüßern fusioniert und werden daher als Tarsungulum bezeichnet.4

In diesen Klauen befinden sich auch die Drüsen, die das Gift produzieren. Die Giftdrüse ist von einer dicken Cuticula und Epidermis bedeckt und besteht aus zahlreichen epithelialen Sekreteinheiten, von denen jede ihr eigenes einzigartiges ventilartiges Ausscheidungssystem hat.5

Solche Veränderungen in den Zangen und gifttragenden Gliedmaßen sind bei keinem anderen Gliederfüßer zu finden.

Mehr über die Anatomie von Skolopendern

Allgemeine Giftwirkung #

Zum Nahrungsangebot von Skolopendern gehören verschiedene Tiere. Angefangen bei anderen Wirbellosen, gibt es belegte Studien zur Ernährung durch kleine Säugetiere, Reptilien6, Amphibien7 hin zum dedizierten Jagen von fliegenden Fledermäusen8. Entsprechend vielseitig ist ihr Gift und seine Aufgaben.

Bestandteile wie Peptide, Zytotoxine, Neurotoxine, Myotoxine und andere Proteine erfüllen beim Beutefang Aufgaben wie Lähmung und Tötung der Nahrung. Andere Bestandteile wie Enzyme dienen der außerkörperlichen Verdauung.4

Zusätzlich sind in den Giften noch allergenbezogene Proteine4 oder Histmanin enthalten. Zusätzlich lösen die Gifte wohl auch Histaminausschüttung beim Menschen aus. Allergische Reaktionen4 oder anaphelaktischer Schock sind hierbei ernstzunehmende Folgen.5

Zusammensetzung #

Die Giftarsenale der Hundertfüßer waren bis vor kurzem größtenteils unbekannt. Fortschritte in der Sequenzierung und Massenspektrometrie haben jedoch detailliertere Einblicke ermöglicht.4 Hundertfüßergift besteht aus einer Vielzahl von Komponenten mit verschiedenen biochemischen und pharmakologischen Eigenschaften.5 Allein für Scolopendra dehaani wurden 1122 genetische Sequenzen gefunden, die das Erbgut für 543 verschiedene Proteine codieren, darunter das neue Protein Spooky Toxin SsTx.9 Ein besonderes Protein namens ShSPI wurde im Gift von Scolopendra hainanum entdeckt.10 Undheim (2015) beschreibt 11 Arten von Enzymen aus den Giften von Scolopendromorpha und Scutigeromorpha, die nach bisherigen Erkenntnissen der außerkörperlichen Verdauung von Beute dienen.4

Zu den eigentlichen Giftbestandteilen gehören unter anderem zytotoxische Peptidtoxine11, antimikrobiellen und antikarzinogenen Komponenten5, analgetische Peptide5, insektizide Moleküle5 und eine vielzahl weiterer myotoxischer und neurotoxischer Bestandteile.5

Darüberhinaus finden sich Serotonin und auch allergenbezogene Proteine und Histamin in den Giften, die zu allergischen Reaktionen4 oder anaphelaktischem Schock führen können5.

Schlussendlich gibt es aber keine universelle Giftzusammensetzung, die allen Skolopendern innewohnt; unterschiedliche Arten haben ihre ganz eigenen Zusammenstellungen mit teilweise ganz einzigartigen Charakteristiken. Und die Foschung ist noch weit davon entfernt, die Inhalte aller Skolopendergifte zu kennen.

Symptome nach einem Skolopenderstich #

Die Vergiftung durch einen Hundertfüßer kann eine Reihe von Symptomen und Effekten verursachen. Lokale Symptome umfassen Schmerzen, Rötungen, Schwellungen und Juckreiz am Stichort. Diese können in den Wochen nach dem Stich auftreten, heilen jedoch normalerweise spontan und selten kommt es zu schwerwiegenden Folgen wie Hautnekrosen.12

Die gängigsten Symptome sind lokale Schmerzen, Erythem (Rötung) und Ödeme (Schwellungen). Eine retrospektive Studie mit 98 Fällen berichtete über diese mit einer Häufigkeit von jeweils 94,9%, 44,9% und 21,4%.13

Systemische Symptome können Übelkeit, Erbrechen, Herzrasen, Kopfschmerzen, Schwindel, geschwollene Lymphdrüsen und Schwäche umfassen. Diese Symptome lösen sich in der Regel innerhalb von zwei Tagen ohne Folgen auf.12

Die Auswirkungen von Hundertfüßerstichen kann von Person zu Person variieren, begründet mitunter in allergischen Reaktionen und allgemeiner gesundheitlicher Verfassung13.

Schwerwiegende Effekte wie Nekrosen oder Muskelfaserzerfall sind durchaus dokumentiert, machen aber in Anbetracht der absoluten Stichvorfälle einen ganz geringen Anteil der potentiellen Folgen aus.

Zu den bekanntesten Extremfällen zählen sicherlich die Todesfolgen nach einem Skolopenderstich. Jedoch beziffern sich die belegten Fälle auf lediglich 3 Personen seit 1950:

  • 1950: Ein siebenjähriges Mädchen aus den Philippinen wurde in den Kopf gestochen14
  • 2000: Ein 28-Tage altes Mädchen aus Brasilien wurde gestochen15
  • 2004: Ein übergewichtiger, 46 Jahre alter Mann stirbt an Nekrosen als Folge eines Stichs1

Ähnlich überschaubar ist die belegte Liste von Nekrosen als Folge eines Skolopenderstiches; lediglich fünf klinische Berichte existieren zu solch schweren Folgen16.

Setzt man diese belegten schweren Verläufe in Relation zu der Aussage, dass alleine in der Türkei 5000 Skolopenderstiche jährlich im Krankenhaus behandelt werden1, ist die Wahrscheinlichkeit für schwerwiegende Folgen verschwindend gering.

Therapie eines Skolopenderstichs #

Aktuell existiert kein Antiserum für Skolopendergift13 und die Behandlung konzentriert sich im Wesentlichen auf Schmerzkontrolle und routinemäßiger Wundversorgung.12. Um zusätzliche Stressfaktoren zu reduzieren, sollte das Stichopfer beruhigt werden, und ihm die Ängste genommen werden17.

Zur Schmerzbehandlung wird oft Ibuprofen empfohlen12, aber auch lokale Anästhetika wurden in Fallstudien verwendet1213.

Nach einem Stich sollte ca. vier Stunden lang auf die Entwicklung von Symptomen und eventuelle Komplikationen geachtet werden.17

Auch wenn prophylaktische Antibiotika nicht notwendig erscheinen12, werden diese dennoch zur Vorbeugung von Nekrosen empfohlen.13. Weiterhin scheint eine Tetanusprophylaxe sinnvoll.13

Ein wenig kontrovers wirken Empfehlungen aus Stichberichten und der Therapie aus taiwanesischen Krankenhäusern5: Mal wird der Schmerz mit Eis und Kälte therapiert, mal scheint Wärmebehandlung zwischen 41-45°C effektiv gegen Giftwirkung und Schmerz.

Beachtung von Skolopendergift in der Wissenschaft #

Nachdem Hundertfüßergifte lange Zeit funktionell uncharakterisiert waren, und viele Bestandteile weiterhin unbekannt sind, haben Fortschritte der jüngsten Vergangenheit zu gestiegenem wissenschaftlichen Interesse geführt.5

Generell erscheinen verschiedene Peptide (z.B. Scolopendrasin) durch ihre Stabilität und inhärente Anpassungsfähigkeiten an Aminosäuremutationen für weitere Forschungen interessant45, aber auch neuentdeckte Proteine wie ShSPI (Scolopendra hainanum)10 oder das Spooky Toxin (SsTx) (Scolopendra dehaani)9.

Weiterhin wurden in Scolopendra mutilans antimikrobielle (AMP) und insektizidische Bestandteile gefunden, die für Medizin und biologische Insektizide sowohl auf wissenschaftliches wie auch kommerzielles Interesse stoßen können.5

Abseits der Wissenschaft stellten die Gifte von Skolopendern einen Bestandteil für traditionelle Medizin in China, Indien, Vietnam, Südkorea und Japan,5 werden für Schmerztherapie, Herzprobleme oder Arthritis eingesetzt.


  1. 2004 - Serinken, Erdur, Sener, Kabay, Cevik - A Case of Mortal Necrotizing Fasciitis of the Trunk Resulting From a Centipede (Scolopendra moritans) Bite ↩︎ ↩︎ ↩︎

  2. 1998 - Knysak, Martins, Bertim - Epidemiological aspects of centipede (Scolopendromorphae: Chilopoda) bites registered in greater S. Paulo, SP, Brazil ↩︎

  3. 2011 - Fung, Lam, Wong - Centipede bite victQims: a review of patients presenting to two emergency departments in Hong Kong ↩︎ ↩︎

  4. 2015 - Undheim, Fry, King - Centipede Venom: Recent Discoveries and Current State of Knowledge ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎

  5. 2022 - Yadav, Upadhyay - Centipede Venom Toxins and its Biomedial and Pharmacological Properties ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎

  6. 2020 - Deimezis-Tsikoutas, Kapsalas, Pafilis - A rare case of saurophagy by Scolopendra cingulata in the central Aegean Archipelago: A role for insularity? ↩︎

  7. 1984 - Carpenter, Gillingham - Giant centipede (Scolopendra alternans) attacks marine toad (Bufo marinus) ↩︎

  8. 2005 - Molinari - Predation by Giant Centipedes, Scolopendra gigantea, on Three Species of Bats in a Venezuelan Cave ↩︎

  9. 2012 - Liu, Zhang, Zhao, Chen, Liu, Wang, Jiang, Zhang, Wu, Ding, Lee, Zhang - Venomic and Transcriptomic Analysis of Centipede Scolopendra subspinipes dehaani ↩︎ ↩︎

  10. 2019 - Luan, Zhao, Duan, Ji, Xing, Zhu, Mwangi, Rong, Liu, Lai - Identification and Characterization of ShSPI, a Kazal-Type Elastase Inhibitor from the Venom of Scolopendra Hainanum ↩︎ ↩︎

  11. 2014 - Morales, Escalona, Garcia, Cassulini, Batista , Mdel. - Proteomic characterization of the venom and transcriptomic analysis of the venomous gland from the Mexican centipede Scolopendra viridis ↩︎

  12. 2001 - Bush, King, Norris, Stockwell - Case Report Centipede envenomation ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎

  13. 2017 - Essler, Julakanti, Juergens - Lymphangitis From Scolopendra heros Envenomation: The Texas Redheaded Centipede ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎ ↩︎

  14. 1950 - Remington - The bite and habits of a giant centipede (Scolopendra subspinipes) in the Philippine Islands. ↩︎

  15. 2000 - Rodriguez-Acosta, Gassette, Gonzales, Ghisoli - Centipede (Scolopendra gigantea Linneaus 1758) envenomation in a newborn ↩︎

  16. 2022 - Tanaka, Mato, Fujiya, Furuhashi, Takanosu, Watanabe, Shinjo, Matsumura, Izawa, Yonekawa, Kato - Necrotizing Soft-Tissue Infection of the Trunk Resulting From Wound Caused by a Centipede: A Case Report. ↩︎

  17. 2015 - Fenderson - Centipede envenomation: bringing the pain to Hawai’i and Pacific Islands. ↩︎ ↩︎